Plädoyer
für die Wiederentdeckung der akustischen Dimension von Dichtung:
Ausgesprochen wirksam!
Im Unterschied zu den Werken anderer Kunstformen hat ein Gedicht die faszinierende
Fähigkeit, auf verschiedenste Weise in Erscheinung zu treten und dabei
gleichzeitig original zu bleiben. Wenn man einmal von Mischformen wie visueller
Poesie und Lautgedichten absieht, spielt es keine Rolle, ob ein Gedicht auf
Zeitungspapier gedruckt ist, im Kopf auswendig gelernt ist, als Audioaufnahme
auf CD gebrannt ist, in Blindenschrift geprägt ist, als SMS auf dem Flüssigkristall-Display
erscheint oder von einer Stimme rezitiert wird. Es handelt sich in jedem Falle
immer um das Originalgedicht.
Bei anderen Künsten verhält es sich anders: Der Vierfarbabdruck
oder der jpg-Scan eines Bildes von Van Gogh wird immer nur eine Abbildung
des Originals bleiben. Der Gipsabguss oder die 3D-Animation einer Rodin-Büste
wird immer nur eine Kopie bleiben. Eine musikalische Komposition kann zwar
als Aufnahme, als Live-Konzert und in Form von Noten daherkommen, sie kann
aber in der schriftlichen Form nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten gegenüber
ihre Wirkung entfalten.
Keine andere Kunstform bietet die Möglichkeit, ihren Rezipienten
auf so mannigfaltige Weise zu erreichen wie die Dichtung. - Sie kann
durch alle Kanäle schlüpfen. - Gesprochenes Wort, Papier, Zelluloid,
Graffiti, Magnetstreifen, Lochkarte, Radio, Speicherchip, Glasfaserkabel,
Vinyl, Mikrofiche, Steintafel, CD, CD-ROM, MC, MD, DVD, DAT, PC, ZIP, Foto,
Mobilfon, Palmtop, WWW, Satellitenfunk. - Es gibt kein Medium, das nicht als
Trägermedium für Dichtung geeignet wäre.
Ist das Gedicht einmal vom Autor in die Welt gesetzt, so kann es in verschiedene
Aggregatzustände transformiert werden. Der Autor hat keinen Einfluss
mehr darauf, welchen Weg das Gedicht nimmt, von welcher Stimme es vorgetragen
wird, welche Hände es abschreiben, welcher Server es zum Download bereithält,
wer es auswendig lernt. Die einzige Wahl, die man als Autor hat, ist die Wahl
der eigenen ursprünglichen Publikationsform. Mit der Wahl des Mediums
für die Veröffentlichung, kann der Autor eine Richtung vorgeben
und damit die Aufmerksamkeit des Lesers, Hörers, Users oder Zuschauers
auf die von ihm bevorzugte Textebene lenken.
Die verschiedenen Veröffentlichungsformen können grob in zwei Kategorien
eingeteilt werden: Auf der einen Seite steht die schriftsprachliche,
visuelle Publikationsform, z.B. als Printmedium, ASCII-Code, Handschrift
oder Gravur. Auf der anderen Seite steht die sprech-sprachliche akustische
Veröffentlichungsweise, z.B. als öffentlicher Vortrag, Audio
CD, MP3-Stream oder Text-to-Speech-Generierung. In der Entwicklungsgeschichte
der Dichtung dominierte ursprünglich der öffentliche Vortrag als
Verbreitungsmedium.
Dichtung war neben einem sinnstiftenden Sprachgefüge auch immer ein sinnliches
akustisches Erlebnis. Diverse Begriffe und Bezeichnungen dokumentieren
auch in den heutigen Zeiten der Verschriftlichung noch die ursprüngliche
Nähe der Dichtung zur Musik. In beiden Genres spricht man von
Metrik, die Bezeichnung Ballade geht auf das Wort ballare [spätlat.:
tanzen] zurück, das Wort Sonett bedeutet wörtlich übersetzt
soviel wie 'Kling-Gedicht', das Wort Lyrik ist aus dem Namen eines Musikinstrumentes
- der Lyra - entsprungen. Die Meistersänger hießen zwar 'Sänger',
waren aber in erster Linie auch Dichter. Eine Rhapsodie bezeichnet eine Musikform
und gleichzeitig auch eine Gedichtform. - Die Liste lässt sich fortsetzen.
Je nach Alphabetisierungsgrad und Verfügbarkeit des Buchdrucks in einem
Kulturkreis variieren die Jahreszahlen, mit denen der Wandel hin zur schriftlichen
Verbreitungsform begann. - Einige Kulturen der Welt sind noch immer stark
an der verbalen Vermittlungsform orientiert. Andere kehren unfreiwillig durch
den Einfluss von audiovisuellen Medien langsam wieder in die akustische Rezeptionsweise
zurück. In den Kulturkreisen, in denen sich ein Wechsel von der Oralität
zur Literalität vollzog, fand dieser als langsame Entwicklung statt.
Ein entscheidender Schritt innerhalb dieser Entwicklung ist der übergang
vom 'lauten Lesen' hin zum 'stummen Lesen'. Die allgemeine Angewohnheit,
Texte stumm zu lesen, ohne dabei die Lippen zu bewegen, ist als Massenphänomen
erst ein paar hundert Jahre alt. Mit der Durchsetzung dieses lautlosen Leseverhaltens
wurde die akustische Erscheinungsform von Dichtung ganz unabsichtlich vernachlässigt.
Viele Gedichte trugen natürlich auch weiterhin noch ihren Rhythmus, ihren
Sprachklang, ihre Vokalordnung und andere akustische Finessen in sich. Sie
kamen aber nur noch selten zur vollen akustischen Entfaltung. Schon bald galt
das Lesen von Gedichten als introvertiert. Es wurde fast schon zum Synonym
für 'alleine sein' und 'in sich gehen'. Die Gedichte wurden stumm und
blieben solange zwischen ihren Buchdeckeln versteckt, bis jemand sie mit den
Augen scannte. Ein Auswendiglernen war nicht mehr nötig, da die Texte
ohnehin auf Abruf in der Bibliothek bereitstanden.
"bibliothek
die
vielen buchstaben
die nicht aus ihren wörtern können
die vielen wörter
die nicht aus ihren sätzen können
die vielen sätze
die nicht aus ihren texten können
die vielen texte
die nicht aus ihren büchern können
die vielen bücher
mit dem vielen staub darauf
die gute putzfrau mit dem staubwedel"
(Ernst Jandl)
Sicher hat auch die geschriebene Form eines Gedichtes ihre Vorzüge. Die
neutrale "Stimme" des Gedruckten, die zeitlose Verfügbarkeit aller Worte,
der gerichtete und dadurch konzentrierte Blick des Rezipienten, das Look and
Feel von Typographie und Papier und nicht zuletzt die relativ leichte und
vor allem gängige Vermarktbarkeit von Lyrik in Buchform. Ein paar wichtige
Eigenschaften fehlen aber der schriftlichen Veröffentlichungsform. Die
wichtigste scheint mir der Klang zu sein. Aufgrund dieses Mangels ist ein
schriftlicher Text immer zur Passivität gezwungen. Er kann im Gegensatz
zu einem gesprochenen Text nicht offensiv auf sein Publikum hinwirken. Es
fehlt ihm - außer vielleicht als Plakat gedruckt - die Möglichkeit,
seine Aufmerksamkeit einzufordern. Es fehlt die dritte Dimension. Der akustische
Zeitstrahl, auf dem Rhythmik, Klang, Assonanz, Dynamik und Wortsinn entlang
gleiten können, um die Zuhörer in einen pulsierenden Sprachfluss
zu reißen.
Höchstwahrscheinlich ist das lange Zeit bemängelte allgemeine Desinteresse
an Dichtung eine Folge dieser Passivität der geschriebenen Form. - Die
sensationellen Erfolge von Lesungen der neuen Spoken Word Bewegung zeigen,
dass aktiv und lebendig gesprochene Lyrik ganz selbstverständlich in
der Lage ist, Zuspruch von einem großen Publikum zu bekommen. Gesprochene
Gedichte schaffen auch einem unbelesenen Publikum Zugang zur Dichtung. Im
Fahrwasser der populären Lesungen und Festivals konnten schon einige
Buchverlage ihre Auflagen für Lyriktitel steigern.
Die Gegenüberstellung von Gedichten in schriftlicher Form und in gesprochener
Form ist für mich keine Frage von Textqualität. Gelungene Gedichte
und weniger gelungene finde ich immer wieder in beiden Sparten. Nur werden
die Texte im Bereich des geschriebenen Wortes natürlich von Redaktionen
und Verlagen nach vermeintlichen Qualitätsmaßstäben selektiert,
während ein gesprochener Text oft ungefiltert auf das Publikum losgelassen
wird. Die Folge dieser ungefilterten Textvermittlung ist das weit verbreitete
Zerrbild vom Spoken Word Dichter als Hobby-Poeten, während in Buchform
publizierende Autoren auch bei Kleinstauflagen schon als Profis angesehen
werden. - (An dieser Stelle möchte ich z.B. auf die Kriterien zur Vergabe
von Stipendien oder Lyrikpreisen hinweisen.)
Abschließend stelle ich fest, dass für mich die Gegenüberstellung
von Gedichten in schriftlicher Form und in gesprochener Form keine Frage von
'entweder / oder' ist. Es scheint mir eher eine Frage des 'sowohl / als auch'
zu sein. - Gegenwärtig dominiert bei Verlagen, Instituten, Stiftungen
und Veranstaltern im Lyrikgeschäft allerdings die schriftliche Form.
Um einen ausgeglichenen Zustand des 'sowohl / als auch' zu erreichen, müssen
wir dafür sorgen, dass sowohl dem 'sowohl' als auch dem 'als auch' langfristig
die verdiente Anerkennung zugestanden wird.
[Bas Böttcher 2003]